TextWald
 







 


Der Spiegel

Es war einmal eine Königin namens Gamila, die lebte in einem großen weißen Palast. Sie war sehr stolz auf ihr äußeres Erscheinungsbild und hörte es gerne, wenn die Leute ihre elfenhafte Figur, ihr wunderschönes Haar und ihre exquisite Kleidung lobten. Jeden Tag kamen Boten zum Schloss geritten und überbrachten Glückwünsche von ihren Untertanen, die ihre Schönheit und Jugend priesen. Gamila freute sich jedes Mal unbändig, denn in Wirklichkeit war sie gar nicht mehr so jung und schön, wie die Leute glaubten. Aber sie musste sich einiges einfallen lassen, um den König bei Laune zu halten. Zum Glück hatte ihr die Großmutter nach ihrem Tod etwas hinterlassen, das ihr gute Dienste leistete. Jedes Mal, wenn sie davor stand, verzog sich ihr Mund zu einem selbstgefälligen Grinsen und dann lachte sie laut über die Dummheit der anderen Leute.
Die Kunde von der sagenhaften Schönheit Königin Gamilas verbreitete sich schnell auch in die Nachbarländer. In einem dieser benachbarten Staaten lebte die junge Königin Hadra. Sie war keine Schönheit und man konnte sie beim besten Willen nicht einmal als hübsch bezeichnen. Die meisten Bewohner des Königreichs hatten sich damals gefragt, warum der stattliche und gut aussehende König Rodolfo ausgerechnet Hadra zur Gemahlin auserkoren hatte. Hier und da wurde getuschelt, er sei zu bequem gewesen, um auf Brautschaureise in andere Länder zu gehen und habe diese Hadra aus dem Katalog der schwer vermittelbaren Königstöchter bestellt.
Hadra blickte schon seit ihrer Jugend eifersüchtig auf Gamila, war sie doch der Meinung, mindestens genauso schön zu sein wie diese. Doch niemand hatte bisher ihr Aussehen oder wenigstens ihre teuren Kleider gelobt und das wurmte sie gewaltig. Sie grübelte so manche schlaflose Nacht, was das Erfolgsgeheimnis von Königin Gamila war, aber sie kam einfach nicht dahinter. Was machte sie selbst denn nur falsch? Sie fuhr jede Woche zu den allerbesten und allerteuersten Zauberinnen der Gegend, bei denen sie sich Cremes für zarte Haut und Tränke für glänzendes Haar zusammenbrauen ließ. Die besten Näherinnen fertigten die schönsten Kleider aus den allerfeinsten Materialien und passten sie perfekt an. Doch nicht einmal dem König schienen ihre Bemühungen aufzufallen. Sie musste verdammt noch mal hinter das Geheimnis von Königin Gamila kommen, sonst würde sie noch verrückt werden. Zornig stampfte sie mit dem Fuß auf.

Eines Tages fand ein großes Fest im Königreich von Gamila statt. Selbstverständlich hatte sie alle mehr oder weniger Adligen der umliegenden Städte und Länder eingeladen, damit ihre Schönheit in ausreichendem Maße bewundert werden konnte.
Hadra reiste in der Kutsche mit ihrem Königsgemahl an, im Schlepptau hatte sie ihre Kusine Tumadir, eine hübsche, etwas mollige Prinzessin mit Sommersprossen, die immer gut gelaunt war. Der vierte im Gefährt war Prinz Leandro, der Verlobte von Tumadir. Den ganzen Weg über erzählte Hadra, welch edle neue Kleidung sie gekauft hatte, wie viel Mühe sich die Zauberin Figarola mit ihrer neuen Haarpracht gemacht hatte, und dass sie das Wohngemach endlich mit den neuesten Designermöbeln von Royal eingerichtet hatte. Gelegentlich verdrehte Prinzessin Tumadir ihre Augen und zwinkerte heimlich ihrem zukünftigen Gemahl zu. Prinz Leandro grinste zurück, schloss dann wieder die Augen und tat, als schliefe er.

Bald nachdem sie im Schloss angekommen waren, begannen die Festlichkeiten. Die Gäste wandelten durch den Schlosshof, lauschten der Musik und blieben hier und da an den Buden stehen, um von den kulinarischen Köstlichkeiten zu probieren. Alle warteten gespannt auf die Königin Gamila, die sich bisher noch nicht hatte blicken lassen.
Gamila stand währenddessen in ihrer Kemenate und drehte sich vor einem riesigen Spiegel hin und her. Der Spiegel war beinahe deckenhoch und hatte einen goldenen, verschnörkelten Rahmen, der mit bunt glitzernden Edelsteinen besetzt war. An einigen Stellen war das Glas schon trübe geworden und König Filberto wollte den Spiegel deshalb kürzlich den fahrenden Händlern für den Verkauf auf dem Markt mitgeben. Gamila hatte den Spiegel gerade noch retten können. Nicht auszudenken, wenn er weggekommen wäre! Dieser Spiegel war das Vermächtnis ihrer Großmutter und ihr wertvollstes Stück. Ohne ihn konnte sie nicht leben. Sie ging hinüber zu dem riesigen Eichenschrank und nahm ein Kleid heraus. Kritisch musterte sie es und schüttelte den Kopf. Welch scheußliche Farbe! Und dieser unvorteilhafte Schnitt! Aber das spielte dank ihres Zauberspiegels keine Rolle. Gamila ging hinüber zum Spiegel und schlüpfte in das Kleid. Entsetzt schaute sie an sich hinunter. Dann hob sie entschlossen den Kopf und blickte ihr Spiegelbild an. Ihre Lippen bewegten sich kaum merklich und wie durch ein Wunder geschah eine Verwandlung. Das nun seidig schimmernde Kleid schmiegte sich perfekt um ihren jugendlichen Körper und sie strahlte die Würde einer Königin aus. Sie nickte ihrem Spiegelbild ein letztes Mal zu, warf dann einen schweren, smaragdgrünen Samtstoff über den Spiegel und machte sich auf den Weg zu ihren Gästen.
Hadra und Tumadir standen im Schlosshof und nippten am Brombeerwein, als Gamila durch die Eingangstür trat und die breite Steintreppe hinunterschritt. Sofort ging ein Raunen durch die Menge.
"Schaut, sieht sie nicht wahrhaft königlich aus?" – "Keinen Tag älter als am Tag ihrer Vermählung mit dem König!" – "Wunderschön ... "
Hadras Stirn hatte sich beim Anblick der strahlenden Erscheinung in Falten gelegt.
Tumadir schaute sie fragend an. "Warum guckst du so düster drein, liebste Kusine? Gefällt es dir nicht mehr hier?"
"Es ist nichts", winkte Hadra ab und versuchte, einen freundlicheren Gesichtsausdruck zu machen. In Wirklichkeit aber ärgerte sie sich. Warum starrte alle Welt auf nur Gamila? Sie war schließlich auch Königin und genauso schön und gut angezogen. Die Leute sollten ihr gefälligst mehr Beachtung schenken, das hatte sie schließlich verdient.
In diesem Moment kam Gamila auf sie zugeschritten. Hadra straffte die Schultern, setzte ihr professionellstes Königinnenlächeln auf und streckte die Hand aus. Doch was war das? Gamila würdigte sie nicht einen Blickes und stolzierte mit hocherhobenen Hauptes an ihr vorbei.
Als Gamila weiterging, löste sich die Menschenmenge rund um Hadra und Tumadir auf. Gerade wollten die beiden sich auf den Weg in den Schlossgarten machen, als sie eine Stimme hinter sich hörten.
"Sie soll bloß nicht so überheblich tun", zischte da jemand, "sonst ist es schnell vorbei mit der Schönheit und Berühmtheit."
Hadra und Tumadir drehten sich um und sahen sich einer alten, hageren, ganz in Schwarz gekleideten Frau gegenüberstehen.
"Meint Ihr die Königin Gamila?", fragte Tumadir.
"Genau von dieser spreche ich", flüsterte die schwarze Frau.
"Und warum sollte es bald mit ihrer Schönheit vorbei sein?" Hadras Interesse war geweckt und sie sah sich schon an Gamilas Stelle als schönste Königin auf der Erde.
"Nur das Vermächtnis ihrer Großmutter macht sie zu der Frau, die alle sehen", erklärte die Alte in geheimnisvollem Ton.
Tumadir verdrehte die Augen. "Könnt Ihr uns das so erklären, dass wir es verstehen?", fragte sie ungeduldig.
"Nein, ich darf nicht darüber sprechen", sagte die Alte und ihre Miene versteinerte sich.
"Ach bitte", flehte Hadra, "ich erfülle Euch auch einen Wunsch. Ich bin nämlich die Königin Hadra von Alkurien."
"Ich weiß, wer Ihr seid", entgegnete die Alte, "aber trotzdem, ich fürchte ..."
"Jeder hat seinen Preis, nicht wahr?", meinte Tumadir grinsend. "Meine Kusine ist reich, ich an Eurer Stelle würde ihr Angebot nicht ausschlagen."
Die Frau zögerte, aber ein Blitzen in ihren Augen zeigte, dass sie nicht abgeneigt war. Schließlich sagte sie: "Wir treffen uns gleich im Rosengarten hinter dem steinernen Brunnen." Mit diesen Worten verschwand sie durch einen Torbogen.
"Warte hier auf mich", raunte Hadra Tumadir zu und eilte, so schnell sie konnte, in das Schloss.
Schon nach wenigen Minuten war sie zurück, packte Tumadir am Arm und zog sie hinter einen Mauervorsprung.
"Sieh, das sollte wohl genügen", sagte sie atemlos.
Tumadir schaute in den Lederbeutel, den Hadra ihr unter die Nase hielt. Er war gefüllt mit Goldmünzen und Edelsteinen.
"Du spinnst", sagte Tumadir, aber sie nickte.
Hadra schloss den Beutel, klemmte ihn unter ihren linken Arm, hakte sich mit dem rechten bei ihrer Kusine ein und dann spazierten die beiden betont gemächlich zum Garten. Sie schritten über die schmalen Kieswege zum Brunnen hin und taten so, als ob sie die in unzähligen Farben blühenden Rosen bewunderten. Hinter einem großen Rosenstrauch beim Brunnen erwartete sie die alte Frau in Schwarz.
"Ich werde Euch das Geheimnis der Königin Gamila verraten, wenn Ihr mich entsprechend dafür entlohnt." Die Alte schaute Hadra erwartungsvoll an.
"Ich gebe Euch diesen Beutel mit Gold und Edelsteinen."
Die Alte griff gierig nach dem Beutel, zerrte ungeduldig am Band, mit dem er verschlossen war. Als ihre Augen den Inhalt erblickten, verzog sich ihr schmallippiger Mund zu einem breiten Grinsen.
Sie schloss den Beutel, ließ in rasch in ihrem weiten Umhang verschwinden und schaute dann Hadra in die Augen.
"Hört mir gut zu, Königin Hadra, denn ich werde das Folgende nur ein einziges Mal sagen. Dann dürft Ihr mir drei Fragen stellen, mehr aber nicht."
Hadra und Tumadir hielten die Luft an und starrten gespannt auf die Frau.
"Der Spiegel ist ihr Geheimnis", flüsterte sie. "Er ist ein Vermächtnis ihrer Großmutter, die eine berühmte Hexe war. Dreimal am Tag muss Gamila vor den Spiegel treten und das Zauberwort sprechen, dann erhält sie Jugend und Schönheit zurück. Der Zauber des Spiegels wirkt nur begrenzte Zeit, und wenn Gamila ihn nicht regelmäßig auffrischen würde, sähe sie so alt und hässlich aus, wie sie in Wirklichkeit ist. Wie jedes verhexte Ding hat aber auch dieser Spiegel eine schlechte Seite. Er verleiht nicht nur Schönheit und Jugend, sondern macht gleichzeitig eingebildet und hochmütig. Seht Euch Gamila an, sie hat für ihre Schönheit und Jugend ihr Herz eingebüßt. Und ich befürchte, der Spiegel kann noch gefährlicher werden. – Aber nun seid Ihr an der Reihe. Stellt mir Eure Fragen!"
"Ein Spiegel ..." Hadras blassgraue Augen leuchteten vor Habgier auf. Ein Zauberspiegel, der ewige Jugend und vor allem Schönheit schenkte! Genau das war es, was ihr noch fehlte!
"Nun ... " Die Alte blickte ungeduldig auf Hadra.
"Gut, gut ... drei Fragen ... das muss reiflich überlegt sein ..." Hadra wickelte nervös eine Haarsträhne um den Finger.
Tumadir verdrehte die Augen. Sie glaubte nicht daran, dass ihre Kusine in der Lage sein würde, die richtigen drei Fragen zu stellen.
"Nun gut, ich habe mir drei Fragen überlegt. Meine erste Frage ist: Wo finde ich den Spiegel?"
"Gamila bewahrt den Spiegel in ihrem Schlafgemach auf. Wenn sie ihn nicht benutzt, verbirgt sie ihn unter einem smaragdgrünen samtenen Tuch."
"Wie lautet das Zauberwort?"
Die Alte grinste und entblößte dabei ihre wenigen Zahnstummel. "Jeder, der von den Kräften des Spiegels weiß und ihn benutzen will, würde wahrscheinlich solche unsinnigen Zaubersprüche wie 'Sag mir, wer ist die Schönste' oder 'Ewige Jugend, komm zu mir' ausprobieren. Doch da habe ich mit Gamilas Großmutter vorgesorgt, als wir den Spiegel gemeinsam verhexten. Sicher würde keiner auf die Idee kommen, beim Blick in den Spiegel 'Augenschmaus' zu sagen ..." Sie lachte hämisch.
Hadra wurde zunehmend aufgeregter, denn sie fühlte sich ihrem Ziel schon ganz nahe. "Kann ich auch diesen Spiegel benutzen?", platzte sie heraus.
"Oh nein, du hättest nach der gefährlichen Seite des Spiegels fragen müssen!", rief Tumadir. Doch es war zu spät. Hadra hatte die dritte Frage gestellt.
Die Frau in Schwarz grinste noch breiter und antwortete: "Sicher, sicher, er wirkt bei jedem, jedoch ..." Dann verstummte sie.
"Sprecht weiter, was wolltet Ihr noch sagen?" Hadra packte die alte Frau an den Schultern und schüttelte sie.
Die Alte warf Hadra einen so bedrohlichen Blick zu, dass diese augenblicklich die Hände von ihren Schultern nahm und drei Schritte zurückwich.
"Ich habe Eure Fragen beantwortet, mehr kann ich nicht für Euch tun." Mit diesen Worten wandte sie sich ab, eilte durch den Garten und war kurz darauf in der Menschenmenge verschwunden.
Tumadir und Hadra blickten ihr einen Moment schweigend hinterher. Dann sagte Hadra: "Ich muss diesen Spiegel haben. Ich schleiche mich jetzt ins Schloss und suche ihn."
"Du bist verrückt! Wenn dich jemand erwischt!"
"Wer sollte mich denn erwischen! Es sind doch alle hier draußen, vor allem Hadra!"
"Aber hast du nicht gehört, dass die Alte gesagt hat, der Spiegel sei auch gefährlich?"
"Pah, was soll denn schon passieren? Schau dir Gamila an, die benutzt ihn schließlich jeden Tag."
"Komm, wir holen uns lieber noch einen Brombeerwein", versuchte Tumadir, ihre Kusine von dem Spiegel abzulenken. Sie hakte sich bei ihr unter und wollte sie zurück zu den Getränkeständen ziehen.
Doch Hadra riss sich los. „Lass mich!“, rief sie wütend. „Ich gehe jetzt da rein und suche ihn!“ Sie raffte ihr langes Kleid zusammen und lief eilig auf die kleine Nebentreppe zu, die vom Garten in das Schloss führte. Kurz vor der Treppe besann sie sich und verlangsamte abrupt ihre Schritte. Ich darf auf keinen Fall auffallen, sagte sie sich, niemand darf auf mich aufmerksam werden.

In der Eingangshalle des Schlosses begegnete ihr eine kleine Gruppe von Gästen, die sich angeregt unterhielten und ihr nur kurz zunickten. Hadra versuchte, sich so natürlich wie möglich zu bewegen. Noch würde sie nicht auffallen, schließlich befanden sich die Gästezimmer auch im Hauptgebäude des Schlosses. Sie stieg die breite Treppe hinauf und blieb oben auf der Empore stehen, um sich unauffällig umzusehen. Der Gang zur Linken führt zu den Gästezimmern, das wusste sie, denn dort war sie mit ihrem Ehegemahl untergebracht. Als sie noch überlegte, ob sie den mittleren oder den rechten Gang nehmen sollte, hörte sie Stimmen, die näher kamen. Sie blieb an der Brüstung stehen und tat, als ob sie die Eingangshalle beobachte. Dann bogen zwei Damen um die Ecke des rechten Ganges, die Hadra als Prinzessinnen des Inselstaates im Norden erkannte. Sie lächelte ihnen zu und freute sich, nun den richtigen Weg zu kennen: Es war der in der Mitte.
Vorsichtig schaute sie sich um, doch weit und breit war niemand zu sehen und es waren auch keine Stimmen zu hören. Auf Zehenspitzen schlich sie auf den Mittelgang zu. Die ersten beiden Türen standen offen. Hier handelte es sich offensichtlich um Empfangsräume. Hadra schlich weiter und öffnete eine Tür nach der anderen. Bibliothek, Speisesaal, Kaminzimmer, Herrenzimmer, Damenzimmer, Kleiderkammer, Baderäume ... und schließlich, ganz am Ende des Ganges, ein riesiges Schlafgemach. Hadras Herz schlug höher, als sie durch den Türspalt in den Raum lugte. Hier musste der Spiegel sein! Sie drehte sich noch einmal um, doch der Gang nach wie vor war leer und verlassen. Schnell schlüpfte sie durch die Tür und schloss sie lautlos hinter sich.
Hadra ließ den Blick durch das Schlafgemach schweifen, doch einen Spiegel erblickte sie nicht. Ach richtig, fiel ihr wieder ein, die Alte hatte doch gesagt, der Spiegel sei verhängt. Dunkelrote Brokatstoffe und weiße Spitze waren hier allerorten drapiert, so dass Hadra recht verzweifelt hin- und herschaute. Wenn sie sich doch nur erinnern könnte, welche Farbe die Frau genannt hatte! Sie ging von Wand zu Wand, schaute in jede Ecke, hinter jedes Möbelstück, schob jeden Vorhang beiseite – doch kein Spiegel weit und breit. Die junge Königin lehnte am Fenster und schaute verzweifelt in den Schlosshof hinunter. Ah, da stand Tumadir mit ihrem Leandro, sie erkannte ihn sofort an seinem smaragdgrünen Umhang. Hadra schlug sich die Hand vor die Stirn. Das war es! Smaragdgrün! Der Spiegel war unter einem grünen Tuch versteckt! Aufs Neue schaute sie sich in dem Zimmer um, doch hier gab es nichts Grünes, absolut nichts. Wo also war der Spiegel? Noch einmal untersuchte sie alle Winkel des Zimmers, aber vergeblich. Es half nichts, sie hatte den Spiegel nicht gefunden und musste aufgeben.
Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt und lugte nach draußen. Der Flur war immer noch menschenleer. Sie huschte nach draußen und schloss die Tür. Doch da hörte sie plötzlich Schritte. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück in eine Nische neben der Tür. Die Schritte kamen näher. Was sollte sie nur sagen, wenn sie hier entdeckt wurde? Schließlich war sie nicht zum ersten Mal hier zu Gast und konnte nicht so tun, als hätte sie sich verlaufen. Sie drückte sich noch tiefer in die Nische, um im Schatten zu verschwinden. Da spürte sie einen harten, metallenen Gegenstand an ihrem Rücken. Mit der rechten Hand tastete sie danach und fühlte einen Türknauf. Sie drehte langsam daran, die schmale Tür öffnete sich nach hinten und Hadra schob sich durch den Spalt. Leise drückte sie die Tür wieder in ihr Schloss. Dann drehte sie sich um und stellte fest, dass sie sich in einem kleinen, quadratischen Raum befand, in dessen Mitte eine Wendeltreppe nach oben führte. Neugierig schaute sie hinauf, konnte aber nicht erkennen, was sich eine Etage höher befand. Nun gut, dachte sie sich, ich sollte noch nicht nach draußen gehen, solange jemand dort herumläuft. Also kann ich genauso gut einen Blick nach oben werfen. Sie raffte ihre Röcke zusammen und stieg vorsichtig die Holztreppe hinauf. Die Stufen knarrten leise, und bei jedem Knarren zuckte sie zusammen, blieb einen Moment regungslos stehen und horchte. Doch von draußen waren keine Geräusche zu hören. Hadra wurde wieder etwas mutiger und nahm die letzten Stufen mit schnellen Schritten. Dann stand sie in einem Turmzimmer – und überall sah sie smaragdgrüne Samtstoffe.
Hadra stand mit offenem Mund am Ende der Wendeltreppe und blickte sich freudig erregt um. Das musste Gamilas Kemenate sein, in der sie ihren Zauberspiegel aufbewahrte! Trotz des grünen Samtes im gesamten Raum erkannte Hadra sofort, wo der Spiegel stand. Rechts neben dem Turmfenster befand sich ein riesiges, fast deckenhohes samtbehangenes Ungetüm. Sie eilte hinüber, zog den Stoff zur Seite und trat ehrfürchtig einige Schritte zurück. Endlich stand sie vor dem Zauberspiegel mit dem goldenen Rahmen – vor dem Spiegel, den sie um alles in der Welt haben wollte.
Hadra stellte sich dicht vor den Spiegel, um sich anzuschauen. Doch was blickte ihr da entgegen? War das tatsächlich ihr eigenes Spiegelbild? Sie wusste zwar, dass sie längst nicht so schön wie Gamila war, aber bisher hatte sie sich doch für einigermaßen hübsch gehalten. Sie drehte sich vor dem Spiegel und beäugte ihre Seitenansicht und, so gut es ging, ihre Rückseite. Bei allen großen Diäthexen, hatte sie wirklich einen so dicken Hintern? Das sah ja unmöglich aus! Entschlossen stellte sie sich aufrecht vor den Spiegel und sprach laut und deutlich: „Augenschmaus.“
Mit großen Augen beobachtete sie ihre Verwandlung. Die Nase wurde ein klein wenig kürzer, die Augen größer und strahlender, die Zähne gerade, die Hüften schmaler und ihre ehemals fahlen, aschblonden Haare glänzten golden. Selbst der Stoff ihres Kleides schimmerte mehr als je zuvor. Für Hadra stand nun endgültig fest, dass sie diesen Spiegel um jeden Preis haben musste. Jetzt war nur die Frage, wie und wann sie ihn hinausschaffen konnte. Sie warf den Stoff wieder über den Spiegel und stieg die Wendeltreppe hinunter. Unbemerkt schlüpfte sie durch die Tür und eilte den langen Gang entlang. Auf der Empore blieb sie stehen und holte tief Luft. Keinesfalls durfte sie so aufgeregt und atemlos wieder bei der Festgesellschaft eintreffen. Nach ein paar Minuten ging ihr Atem wieder ruhiger und sie schritt langsam die Treppe hinunter. In der Halle kam ihr auch schon Tumadir entgegen.
„Hast du ihn gefunden?“, fragte Tumadir, sobald sie ihre Kusine erreicht hatte.
„Pssst, nicht so laut!“, zischte Hadra ihr zu und zog sie in eine Nische unter der Treppe. „Ja, ich habe ihn gefunden“, flüsterte sie. „Schau mich doch an!“
Tumadir trat einen Schritt zurück, um Hadra ausführlich zu betrachten. „Hmmm“, machte sie und legte ihre Stirn in Falten.
„Was heißt ‚hmmm’?“, fragte Hadra gereizt.
„Ja, doch, irgendetwas hat sich verändert“, murmelte Tumadir. „Aber das ist geschickt gemacht, du siehst viel besser aus als vorher, doch man kann gar nicht sagen, was sich verändert hat.“
„Ha!“, triumphierte Hadra, „jetzt merkst du endlich auch, warum ich diesen Spiegel unbedingt haben muss! Und jetzt suchen wir meinen Gemahl und schauen, ob er es auch bemerkt!“ Sie raffte ihr Kleid zusammen und schritt erhobenen Hauptes durch die Halle. Tumadir folgte ihr, so schnell sie konnte. Tastsächlich, sogar ihr Hintern ist nicht mehr so dick wie vorher, dachte sie, während sie hinter ihr hereilte.

Am Stand mit dem dunklen Roggenbier trafen sie auf König Rodolfo und Prinz Leandro. Rodolfo stellte seinen Bierkrug ab, verbeugte sich vor Hadra, dann nahm er ihre Hand und küsste sie. „Meine Königin, Ihr seht heute außerordentlich bezaubernd aus? Wie habt Ihr das nur gemacht?“
Hadra warf Tumadir einen kurzen Blick voller Genugtuung zu, dann tat sie, als ob sie verlegen sei und senkte verschämt die Augen. Voller Stolz blickte Rodolfo auf seine Gemahlin hinab. Welch bezauberndes Wesen hatte er doch zur Frau, er sollte wohl öfter genauer hinschauen. Hoffentlich liegt es nicht am Roggenbier, dachte er dann noch, denn er hatte zusammen mit Leandro und zwei Herrschern aus benachbarten Ländern schon einige Krüge getrunken.
Tumadir hatte am Stand gegenüber zwei Gläser Brombeerwein geholt. Nun stutzte sie, als sie sich Hadra von hinten näherte. Das Hinterteil war doch noch recht breit, oder täuschte sie sich? Aber nein, jetzt sah sie deutlich, wie sich der Stoff über den Hüften spannte. Sie überreichte Hadra ein Glas von dem Wein und sah mit Erschrecken ihr Gesicht. Die Nase war lang und schief wie eh und je, die Augen blassgrau, schmal und mit Schlupflidern und die Zähne glichen wieder einem morschen Gartenzaun. Ihr schien es, als sähe sie jetzt sogar hässlicher aus als zuvor. Sie schüttelte den Kopf, denn das konnte doch nicht sein. Hadra hatte einen großen Schluck Wein genommen, bemerkte jetzt aber, wie ihre Kusine sie anstarrte.
„Was um Himmels willen ist los, warum guckst du so entsetzt?“
„Hadra, ich hab dir doch die ganze Zeit gesagt, dass das mit dem Spiegel eine dumme Idee ist, und jetzt ...“
„Unsinn!“, fuhr Hadra dazwischen. „Du hast doch vorhin selbst gesagt, dass sie Veränderung gelungen ist. Und sogar mein Herr Gemahl hat so getan, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen!“
„Ja, aber ...“
„Aber was? Nun gib doch endlich Ruhe!“, herrschte Hadra Tumadir an.
„Aber irgendwie kommt es mir gerade so vor, als ob du jetzt wieder aussiehst wie früher, und vielleicht sogar noch weniger hübsch.“
„WAAAS!?“, entfuhr es Hadra. Ohne auf die erstaunten Blicke der umstehenden Leute zu achten, knallte sie ihr Glas auf einen Holztisch, packte Tumadir am Arm und zerrte sie in Richtung Schloss. Tumadir konnte im Vorbeilaufen gerade noch ihr Weinglas irgendwo abstellen, dann stolperte sie an der Seite von Hadra auf die Eingangstreppe zu. In der Halle lief Hadra zielstrebig auf eine Tür zu, riss sie auf, schob Tumadir in den Raum, warf die Tür hinter sich ins Schloss und drehte den großen Schlüssel um. Sie befanden sich in einem Waschraum mit deckenhohen Spiegeln. Voller Entsetzen betrachtete sich Hadra in einem der Spiegel. Sie betastete ihre Nase, bleckte die Zähne, griff in ihr Haar und befühlte schließlich ihre Hüften und ihr Hinterteil.
„Schau mich an! Wie ich aussehe! Das ist ja entsetzlich! Ich muss sofort wieder zum Spiegel!“
Tumadir hatte sich an der gegenüberliegenden Wand in einem Sessel niedergelassen und betrachtete mittlerweile recht amüsiert das hysterische Gebaren ihrer Kusine.
„Nun grins nicht so!“, fauchte Hadra. „Das ist überhaupt nicht lustig! Ich muss zum Spiegel!“ Zornig stampfte sie mit dem Fuß auf.
„Jetzt überleg doch mal“, versuchte Tumadir einzulenken, „die alte Frau hat gesagt, der Spiegel könnte vielleicht auch gefährlich sein. Was ist, wenn du nach jedem Benutzen hässlicher und hässlicher wirst?“
„Das ist mir doch egal, wenn ich erst einmal den Spiegel habe, dann kann ich das immer wieder korrigieren!“
Hadra lief zur Tür und schloss auf. „Ich gehe jetzt zum Spiegel. Du kommst mit und hilfst mir, ihn herauszuschaffen!“, befahl sie.
Tumadir zuckte nur die Achseln, erhob sich langsam aus dem Sessel und folgte Hadra die Treppe hinauf in den ersten Stock. Hadra war so aufgeregt, dass sie dieses Mal alle Vorsichtsmaßnahmen außer Acht ließ. Sie lief zielstrebig den langen Mittelgang entlang und verschwand dann in einer dunklen Nische neben der letzten Tür. Als Tumadir dort ankam, sah sie, dass sich in der Nische eine Tür befand. Sie öffnete die Tür und hörte im selben Moment einen gellenden Schrei.
„Du! Du hast meinen Spiegel benutzt!“
Mein Spiegel? Das musste Gamila sein, schloss Tumadir aus diesen Worten.
„Ja! Richtig! Und ich will ihn haben!“
Das war eindeutig Hadra. Tumadir stieg vorsichtig die Wendeltreppe hinauf. Gamila und Hadra standen sich vor dem Spiegel gegenüber, beide hatten die Hände in die Hüften gestützt und schrien sich wütend an.
„Ich habe sofort bemerkt, dass jemand meinen Spiegel benutzt hat“, rief Gamila. „Der färbt nämlich ab!“ Sie entblößte die Zähne und Tumadir erkannte, dass ihr Gebiss genauso aussah wie das von Hadra. Sie kicherte verstohlen.
Auch Hadra blickte interessiert auf Gamilas Zähne. „So schlimm ist das auch wieder nicht“, meinte sie nur.
„Oh, ich könnte vor Wut zerplatzen!“
„Tu’s doch, dann gehört der Spiegel mir!“
Tumadir stand immer noch auf der Treppe, die Arme auf das Geländer gestützt und schaute den beiden streitenden Königinnen zu. Was würde wohl passieren, wenn eine der beiden das Zauberwort ausspräche? Und beinahe wie von selbst schlüpfte ein leises „Augenschmaus“ über ihre Lippen.

Der Spiegel begann zu zittern, die Bilder der beiden Frauen verschwammen und schienen ineinander zu laufen. Hadra und Gamila hatten aufgehört, sich anzuschreien und starrten sich entsetzt an. Hadra fasste sich an die Nase. Gamila stellte mit Erschrecken fest, dass die Nähte ihres Kleides an den Hüften aufplatzten. Der Spiegel bebte stärker und die Spiegelbilder verschwammen mehr und mehr. Tumadir beobachtete, wie Hadras Nase immer dicker und ihr Haar grau und filzig wurde. Gamila hatte jetzt eine lange, krumme Nase und fahles, helles, strähniges Haar. Der Spiegel fing nun an, hin und her zu wackeln, er rumpelte gegen den Schrank, kippte und schlug an das Fenster. Die Scheibe des Fensters zerbarst, der Spiegel stürzte nach draußen und landete mit einem lauten Krachen im Schlosshof. Einen Moment war es totenstill, dann stiegen unzählige winzigkleine Glassplitter in den Nachthimmel hinauf. Sie glitzerten und funkelten in allen Farben. Im selben Augenblick fegte eine heftige Sturmbö um den Turm und nahm die Glassplitter mit sich fort. Ein Splitter jedoch landete mit einem leisen „Pling!“ direkt vor Tumadirs Nase auf dem Boden. Sie hob ihn vorsichtig auf und schob ihn in die Tasche ihres Umhangs.
„Hadra!“, rief sie leise. „Komm, wir gehen wieder hinunter!“
Wie in Trance bewegte sich die verwandelte Hadra auf die Treppe zu und trottete dann mit hängendem Kopf hinter Tumadir her.
„Nimm’s nicht so schwer, immerhin hast du jetzt nicht mehr so einen dicken Hintern!“
Hadra schluchzte auf. „Aber der Rest! Wie soll ich das Rodolfo erklären?“
Tumadir zuckte mit den Achseln. „Weißt du, ich glaube, er wird deine Veränderung gar nicht bemerken. Er liebt dich bestimmt so, wie du bist.“ Und im Grunde ist es ihm egal, wie du aussiehst, dachte sie bei sich. Er sitzt doch nur deswegen den ganzen Tag und die halbe Nacht auf seinem Thron und regiert und regiert und regiert, damit er nicht so viel Zeit zu Hause verbringen muss.
„Neinneinneinnein, nie und nimmer wird er mich so mögen! Ich muss sofort abreisen und Termine mit meinen Schönheitszauberinnen machen!“, schluchzte Hadra verzweifelt.
Tumadir seufzte leise. Hadra würde nie mit sich zufrieden sein, ob mit oder ohne Zauberspiegel. Ach ja, der Spiegel … was würde jetzt aus Gamila werden? In diesem Augenblick hörten sie Gamilas Stimme. Alle Gäste auf dem Schlosshof schauten nach oben. Am Fenster des Turmzimmers konnte man die Umrisse einer Gestalt erkennen, die zwar nicht wie Gamila aussah, aber eindeutig ihre Stimme hatte.
„Das Fest ist beendet! Ich gebiete Euch allen, unverzüglich aus meinem Schloss und meinem Reich zu verschwinden! Ich will niemanden mehr sehen! Wachen! Schickt die Leute weg, aber flugs, sonst lasse ich Euch hängen!“
Lautes Gemurmel erhob sich ihm Schlosshof, dann eilten alle Gäste zu ihren Kutschen und Pferden und verließen so schnell sie konnten das Königreich Gamilas.

Tumadir und Leandro fuhren wieder in der königlichen Kutsche zusammen mit Hadra und Rodolfo zurück. Rodolfo hatte tatsächlich kein Wort über die Veränderungen bei Hadra verloren. Schweigend schaute er aus dem Fenster und beschloss, nie mehr so viel Bier zu trinken. Hadra jammerte fortwährend vor sich hin, aber keiner der dreien achtete auf sie. Tumadir hatte sich an ihren Prinzen Leandro gekuschelt und lächelte zufrieden. Vorsichtig tastete sie in der Umhangtasche nach dem kleinen Glassplitter.

Hadra hörte nicht mehr auf zu jammern und alle Menschen zogen sich von ihr zurück. Das Königreich Alkurien wurde deshalb später nur noch „Jammertal“ genannt.
Die Königin Gamila lebte fortan einsam in ihrem Turmzimmer und keine Menschenseele außer ihrer Dienerin bekam sie jemals wieder zu Gesicht.
Tumadir lebte glücklich und zufrieden mit ihrem Leandro zusammen und wurde über hundert Jahre alt. Sie war fest davon überzeugt, dass der winzige Splitter des Zauberspiegels ihr Glück gebracht hatte.

(Februar 2006)


 


Weltweites Web:

Kurzgeschichten.de

Zwiebelfisch

Duden-Suche

Wortschatz-
Lexikon

 

Meine Seiten:

Löwenmaul

Löwenmauls Tagebücher

Hausnummer27

 
 

Copyright © Sabine Dochow